Über das unterschiedliche "Wesen" von Auto- und Radfahrern.
Darüber denk ich schon sehr lange nach; jetzt wollte ich diese sehr grundsätzlichen Überlegungen publizieren und zur Diskussion stellen.
Diese Woche im
falter.
Und natürlich hier.
In letzter Zeit werden sie immer heftiger. Die Debatten und gelegentlich geradezu wüternden Vorwürfe rund um das Thema “Radler missachten Verkehrsregeln”. Wenn eine Radiostation von Anrufern gestürmt werden möchte, wählt sie “Radfahrrowdy”, läd jemanden wie mich ins Studio, und die Telefone beginnen von Hysterie zu kreischen.
Meist versuche ich es dann mit rationalen Argumenten Vergleiche die verschwindend geringe Zahl jener Menschen, die “unters Fahrrad” kamen, mit den Abertausenden, die von Autos gerammt wurden. Verweise auf den Wiener Kardinalfehler, Radwege auf schmalen Gehwegen angelegt zu haben statt auf Fahrbahnen - mit der Konsequenz, die schwächsten Verkehrsteilnehmer auf einander zu hetzten, damit die Autos ungestört bleiben. Jedes Mal aufs Neue merke ich: ich kann mich brausen mit solchen Argumenten.
Das zugrundeliegende Problem ist ernst und in seiner Konsequenz radikal.
Man möge mit einer kritischen Selbstbetrachtung beginnen.
Sitzt man hinter dem Steuer eines Autos und leuchtet die Ampel rot, so wird der Stop-Befehl unhinterfragt und ohne Anstrengung befolgt. Man bleibt stehen und wartet.
Der selbe Mensch als Fussgänger: Wenn klar ersichtlich ist, dass kein Auto kommt, keinerlei Gefährdung vorliegt, übernimmt eine andere Kraft das Kommando. Man geht einfach los. Und jene, die neben einem stehen, gehen ebenso los.
Stehenbleiben, ohne dass dafür, ausser der roten Fußgängerampel ein triftiger Grund vorliegt, weil die Strasse leer ist, erfordert eine grosse Kraftanstrengung.
Zwei Spezies in einer Person reagieren völlig unterschiedlich. Gebückt, im Auto eingeschlossen, die Kommunikation auf insektenhaftes Blinken heruntergefahren, quasi als spezies “Homo autofahriensis” fügt man sich in technisch gesteuerte Lenksignale.
Wieder auferstanden zum homo sapiens sapiens kann man schwer anders, als Jahrtausende alte Verhaltensmuster weiterzuführen. Man benutzt Augen, Ohren und ein wenig Verstand, um sich sicher bewegen zu können. Es ist in der Tat erstaunlich, wie es auch grossen Menschenmassen, in Fussgängerzonen, auf Flug- oder Bahnhöfen, geradezu spielerisch gelingt sich individuell zu bewegen, auszuweichen, sich einzuordnen, ohne dass dafür technische Hilfsmittel notwendig wären.
Auch wenn in Venedig in den Sommermonaten sich Abertausende bewegen, zurecht ist noch niemand auf die Idee gekommen, Einbahnen einzuführen oder Ampeln zu errichten.
Erst die Übereignung der Strasse an das Auto hat dies mit sich gebracht. Solange man als Homo sapiens sapiens auf seinen eigenen Füßen unterwegs ist, würde der als ziemlich grenzwertig betrachtet werden, der einen Umweg zu gehen auf sich nimmt, da ja “hier eine Einbahn ist”.
Man traut “dem Menschen” zu sich frei und selbstbestimmt zu bewegen.
Setzt sich der Mensch, und das ist jetzt der springende Punkt, auf ein Fahrrad, bleibt er ein Mensch, wird weiterhin als Mensch angesehen und auch so angesprochen: “Die Radler” seien Rowdies heisst es, nicht “die Räder”. Ganz im Unterschied zum Auto. “Die Autos” seien gefährlich, der Mensch bückt sich und verschwindet in der Maschine. Folgerichtig fragt am auch, “Wo stehst DU?”, wenn man meint, “wo parkt dein Auto?”
Wer diese auf den ersten Blick merkwüdige aber sehr ernst gemeinte These, dass der Mensch hinter dem Lenkrad im Auto zu einer anderen spezies wird, bezweifelt, möge an sich selbst das Aggressionsverhalten beobachten. Nirgendwo sonst kommen so schnell geradezu eruptionsartig Schimpftiraden über die Lippen, nur weil ein anderes automobiles Insektoid überholt, schneidet, oder sonst wie das eigene Revier bedroht. Man schimpft und droht, obwohl man weiss, dass man nicht gehört wird, weil ja alle Fenster geschlossen sind.
Man nimmt ungeheure Risken auf sich, gefährdet sich und andere, wenn man wütend und hupend kanpp vor der Kurve diesen verfluchten Anfänger, diesen gesch... Radler, der Teufel möcht ihn holen überholt und dabei die Faust erhebt.
Radler entäussern sich nicht ihrer Spezies als sapiens sapiens, wenn sie auf den Sattel steigen. Und empfinden Ampeln, Stopschilder, als, sagen wir es zurückhaltend, schlichte Empfehlungen.
Es ist unausweichlich: Trifft eine rote Ampel auf einen Fußgänger oder einen Radfahrer, liegt es schlicht im Wesen letzterer, ihre Selbstbestimmung und ihr humanes Orientierungsverhalten nicht aufzugeben.
Das potenziert natürlich die Aggression jener Wesen hinter dem Lenkrad, die ihrer Spezies gemäss ein Rot als unerbittlichen Befehl hinnehmen. Aus ihrer Sicht wird das Überfahren einer roten Ampel zum besonderenFrevel. Kommt noch die Demütigung dazu, trotz 150 PS und einer Spitzengeschwindigkeit von weit über 200 kmh im Stau von eben jenen frechen Radlern überholt zu werden, ist jenes emotional Gebräu gemischt, das die Aggression gegen Radfahrer heute ausmacht.
Eine “kleine” Lösung gibt es hier nicht, letztlich nur eine radikale. Wo der homo sapiens sapiens lebt, haben Ampeln, Einbahnen und Stopschilder nichts verloren. Menschen in grosser Zahl auf der Strasse, sei es auf zwei Füßen oder muskelbetrieben auf zwei Rädern statt an den Rand gedrängt das wird, wiederum, die Stadt der Zukunft sein.